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Aus der ZeitschriftLSR 3/2019 | p. 146–147Es folgt Seite №146

Eine Branche im Paradigmenwechsel

Die Wirtschaftsgeschichte verläuft nicht linear. Phasen organischer Fortentwicklung bestehender Geschäftsmodelle werden abgelöst von Perioden disruptiver Veränderung, die ganze Branchen und Unternehmen grundlegend verändern oder gar verschwinden lassen. Raum für Neues wird geschaffen. Die Auslöser sind mannigfach: Technologische oder wissenschaftliche Durchbrüche, Veränderung gesellschaftlicher Grundhaltungen und damit von Konsumentenverhalten, tiefgreifende rechtliche oder regulatorische Veränderungen oder, auf Unternehmensebene, die Unfähigkeit zum zeitgerechten Wandel. Die Liste ist lang: Industrielle Revolutionen, das Internet, der Klimawandel, die Entwicklung des Halbleiters, die Digitalisierung, Kodak Eastman und Nokia, Google und Amazon, das iPhone – all das sind Chiffren und Wegmarken für Auslöser, Ergebnisse, Opfer und Gewinner tiefgreifender Veränderungen. Rund ein Drittel der Unternehmen, die im Jahr 2000 im Dow Jones Industrial Average (DJIA) von 30 der wichtigsten US-amerikanischen Unternehmen waren, sind in ihrer damaligen Form aus dem Index verschwunden.

Ist heute die Pharmaindustrie in einer Periode tiefgreifender Strukturveränderung und disruptiven Wandels angekommen, die bestehende Gewissheiten, Verhalten und Erwartungen tiefgreifend verändert und fundamental Neues entstehen lässt?

Meine Erfahrung basiert auf 25 Jahren Tätigkeit in einer bedeutenden Schweizer Anwaltskanzlei und fast sieben Jahren in der Konzernleitung und an der Spitze der grossen Rechtsabteilung eines der global führenden Schweizer Pharmaunternehmens. Daraus leite ich meine Quervergleiche bezüglich Strukturwandel und Veränderungsgeschwindigkeit in zwei unterschiedlichen Sektoren ab: Rechtsberatung als eine sich weitgehend kontinuierlich entwickelnde, mit hoher Stetigkeit operierende und auch über den konjunkturellen Zyklus ökonomisch erfolgreiche Branche – Pharma als hochdynamischer und wettbewerbsintensiver Sektor mit hoher Komplexität, im Fokus unzähliger Anspruchsgruppen und im Schnittbereich rasanter Entwicklungen von Wissenschaft, Technologie, der Globalisierung, von neuen Geschäftsmodellen und des gesellschaftlichen und politischen Wandels. Die Fähigkeit zur kontinuierlichen proaktiven Veränderung ist in einem derartigen Umfeld überlebensnotwendig; mehr noch: Diese Fähigkeit bildet die Grundlage erfolgreichen und nachhaltigen Wirtschaftens.

Pharma bleibt einer der bedeutendsten und überdurchschnittlich wachsenden Wirtschaftszweige; in den nächsten Jahren wird global von einem jährlichen Wachstum von 5%–9% ausgegangen. Während das Wachstum in den Industrieländern jährlich im niedrigen einstelligen Betrag zu veranschlagen ist, dürfte es in den Entwicklungs- und Schwellenländern im hohen einstelligen Bereich liegen. Die demographische Entwicklung, ein massiver wissenschaftlicher und technologischer Innovationsschub, die Steigerung der Kaufkraft in aufstrebenden Märkten und ein sich verbessernder Zugang zu Arzneimitteln und Therapien, medizinischen Produkten und Dienstleistungen tragen zu diesem Wachstum bei. Pharmaunternehmen investieren personell und materiell massiv in die Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse (Bsp: R&D, Marketing und Sales) und in die Schnittstelle zum Patienten (Bsp: Gesundheits-Apps); gleichzeitig treten aufgrund der hohen Wertschöpfung, der grossen ökonomischen Bedeutung des Sektors und der rasanten technologischen Entwicklung (Digitalisierung, data handling) neue Wettbewerber in die Pharma- und generell in die Gesundheitsindustrie ein. Das gilt in besonderem Masse für die grossen Technologieunternehmen (Google, Amazon, Microsoft, etc.). Gleichzeitig zeigt sich immer deutlicher, dass die öffentliche Hand, Unternehmen und private Haushalte an den Grenzen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit angelangt sind.

Wird der Anteil von über 17% am Bruttoinlandprodukt, den die USA im Jahr 2016 für Gesundheit ausgeben hat oder der entsprechende Betrag von über 12% für die Schweiz wie in der Vergangenheit weiter stark wachsen? – Der durch die Gesundheitskosten verursachte Budgetdruck ist weit mehr als in der Vergangenheit zu einem zentralen politischen Thema geworden und rückt eine Forderung in den Mittelpunkt jeder gesellschaftspolitischen, ökonomischen und ethischen Debatte über das Gesundheitswesen und damit auch über Pharma: Die Forderung nach effektiven Massnahmen zur Eindämmung der Kosten. Eine Rolle spielen dabei stagnierende Einkommen der Mittelklasse in vielen OECD-Ländern. Das Bewusstsein ist gestiegen, dass die weiterhin steigende Nachfrage sich nicht wie in der Vergangenheit in entsprechenden Kostenerhöhungen niederschlagen kann. Tatsache ist aber auch, dass die Komplexität der historisch gewachsenen Gesundheitssysteme mit den zahlreichen daran beteiligten Interessengruppen schnelle Lösungen nicht zulässt. Die Digitalisierung interner und externer Prozesse, der völlig neue Blickwinkel auf Gesundheitsdaten («data as an Aus der ZeitschriftLSR 3/2019 | p. 146–147 Es folgt Seite № 147asset»), neue Pricingmodelle (Bsp: «outcome based pricing»), bahnbrechende neue Therapien und Medikamente (Bsp: Gen-Therapien), die Eliminierung bzw. das Zurückstutzen nicht ausreichend wertschöpfender Intermediäre und Institutionen (Bsp: PBMs in den USA) und viele andere Eingriffe werden zu Veränderungen und damit zu mehr Nachhaltigkeit führen. Der Blick auf das Machbare und nicht nur auf das Wünschbare wird geschärft.

Die Branche steht vor enormen Herausforderungen: Immer höhere Entwicklungskosten für neue bahnbrechender Medikamente und Therapien stehen sinkenden Erträgen (peak sales) gegenüber. Die Bedeutung des Datenschutzes in einer Zeit, wo die intelligente und effiziente Analyse von grossen Datenmengen zu Ergebnissen führt, die dem Patientenwohl dienen, wo aber eben auch ein Missbrauchspotential besteht, wird zunehmend in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion stehen. Der Zugang zu teuren neuen Therapien und Heilmitteln, überhaupt die Verfügbarkeit von Heilmitteln in grossen Teilen der Welt, ist trotz grosser Fortschritte immer noch unakzeptabel tief. Neue gesellschaftliche Wertvorstellungen, massgeblich getrieben von den jungen Generationen, führen zu Veränderungen im Arbeitsalltag und bei den Geschäftsmodellen. Damit wird die Umgestaltung weiter Teile der Gesundheitssysteme zu einem Imperativ unserer Zeit. Pharma wird nicht zuletzt aufgrund der Sichtbarkeit von Medikamentenpreisen und des politischen Fokus’ auf der Branche einen massgeblichen Beitrag zu den Veränderungen leisten müssen, auch wenn der Anteil von Heilmitteln an den Gesamtausgaben für Gesundheit sich global «nur» im Bereich von 10%–15% bewegt.

Zurück zur anfangs gestellten Frage: Die Branche ist mitten in Paradigmenwechseln, auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht. Der Prozess wird schmerzhaft sein und auch Verlierer kennen. Will man aber die enormen Opportunitäten zur Verbesserung des Patientenwohls nutzen, die der wissenschaftliche, technologische und gesellschaftliche Wandel schafft, steht die Option der Bewahrung des Status quo nicht mehr zur Verfügung.