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Aus der ZeitschriftLSR 2/2019 | S. 74–76Es folgt Seite №74

Regulierung und Innovation: ein Widerspruch?

Wie der rasante wissenschaftlich-technologische Wandel mit trägen Rechtsetzungsprozessen in Einklang gebracht werden kann

An die Regulierung werden schon heute und auch in Zukunft immer höhere Ansprüche gestellt. Politik und Wirtschaft scheinen das Thema der «Überregulierung» zu ihrem täglichen Mantra gemacht zu haben. Sie ignorieren oder bekämpfen nicht selten Regulierungsbestrebungen, um bei auftretenden Skandalen und Marktversagen umso eindringlicher eine dann als notwendig und nützlich erachtete staatliche Regulierung einzufordern. Beispiele dazu finden sich in verschiedensten Branchen. Steht in diesem Spannungsfeld der legitime regulatorische Schutz in unvereinbarem Gegensatz zu Innovation und Praktikabilität? Mit den nachfolgenden Ausführungen werden die aktuelle Debatte, einige Herausforderungen, Instrumente und Optionen dargestellt.

I. Evolution der Gesetzgebung

Ziel der ordentlichen Revision des Heilmittelgesetzes (HMG) war es, den Zugang der Bevölkerung zu Arzneimitteln sowie die Rahmenbedingungen für die biomedizinische Forschung und Industrie zu verbessern. Der Marktzutritt sollte erleichtert, die Arzneimittelsicherheit modernisiert sowie die Transparenz erhöht werden. Das Parlament hat das revidierte Heilmittelgesetz in der Schlussabstimmung am 18. März 2016 nach einem siebenjährigen Gesetzgebungsprozess verabschiedet. Aufgrund der zahlreichen Anpassungen im Gesetz folgte auch eine Anpassung des Verordnungsrechts. Der Grossteil des revidierten HMG sowie das entsprechende Verordnungsrecht wurden auf den 1. Januar 2019 in Kraft gesetzt.

Die Schweiz ist im Bereich Medizinprodukte über ein bilaterales Abkommen in den europäischen Binnenmarkt eingebunden. Angelehnt an die Entwicklung in der EU passt auch die Schweiz ihre rechtlichen Bestimmungen an, um die Qualität der Produkte zu erhöhen und die Patientensicherheit zu verbessern sowie Schweizer Herstellern weiterhin den gleichwertigen Zugang zum EU-Markt zu gewährleisten. So gelten beispielsweise für die Durchführung klinischer Versuche, aber auch für die Herstellung, Anwendung und Überwachung von Medizinprodukten künftig deutlich strengere Vorgaben.

Im Gegensatz zu den Arzneimitteln werden Medizinprodukte nicht behördlich zugelassen, sondern durchlaufen ein Konformitätsbewertungsverfahren. Fällt die Prüfung positiv aus, erhalten die Produkte eine CE-Kennzeichnung und können in der EU vermarktet werden.

In einem ersten Schritt hat der Bundesrat im Oktober 2017 die ersten Anpassungen im Schweizer Recht gutgeheissen. Nun werden das Heilmittelgesetz und das Humanforschungsgesetz unter Berücksichtigung der neuen EU-Regulierung angepasst, die Medizinprodukte Verordnung total revidiert und eine neue Verordnung für in-vitro Diagnostika erstellt. Diese Gesetzes- und Verordnungsänderungen sollen 2020 bzw. 2022 in Kraft treten.

II. Evolution in Wissenschaft und Technologie

Die Forschung und Entwicklung neuartiger Technologien läuft einher mit der rasant voranschreitenden Digitalisierung. Diese zieht sich durch alle Industriebereiche sowie Gesellschaftsschichten hindurch und eröffnet neue Möglichkeiten. Insbesondere in der klinischen Forschung werden vermehrt neue Formen der Evidenzgenerierung («real-world evidence») eingesetzt. In der personalisierten Medizin wurden im Bereich der Gen-Editierung grosse Fortschritte erzielt, besonders im Bereich der Onkologie. Die Verwendung von «Health Apps» und «Wearables» ist mittlerweile die Norm. Arzneimittel werden mit Medizinprodukten und Informatik verknüpft und es entstehen komplexe innovative Kombinationsprodukte. Dadurch rücken unter anderem Abgrenzungsthematiken immer mehr in den Fokus. Denn die neuen Produktetypen lassen sich kaum den aktuellen Definitionen zuordnen.

Aus der ZeitschriftLSR 2/2019 | S. 74–76 Es folgt Seite № 75Fazit: Die rasante Entwicklung in Technologie und Forschung im Pharma- und Medizintechniksektor, die Konvergenz der Technologien, die daraus resultierenden komplexen innovativen Produkte, Forderungen nach früherem Marktzugang mit anschliessend anspruchsvollerer Marktüberwachung, die Zunahme der Zahl der Produkte, Hersteller und Dienstleister, neue Geschäftsmodelle, die Globalisierung der Lieferketten; dies alles in Kombination mit der parallel dazu erfolgenden digitalen Transformation in einer generell komplexer werdenden Welt sind eine geballte Ladung an Herausforderungen, die das Regulierungsgeschäft zunehmend anspruchsvoll machen.

III. Wie kann die Gesetzgebung mit der wissenschaftlich- technologischen Entwicklung Schritt halten?

Der Gesetzgebungsprozess ist systembedingt träge. Er lässt sich vom Prinzip her schwer mit dem schnellen technologischen Wandel vereinbaren. Dies stellt Regulatoren sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene vor grosse Herausforderungen. Rechtsetzungsprojekte auf Gesetzes- und Verordnungsstufe brauchen in der Regel zwischen zwei und acht Jahren.

Was sind nun die Faktoren, die einen möglichst effizienten Gesetzgebungsprozess ermöglichen sollen?

«Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der Richtige.» Dieses dem römischen Staatsmann und Philosophen Seneca zugeschriebene Zitat gilt auch noch 2000 Jahre später für einen modernen Gesetzgeber. Daher ist bei aller Unabhängigkeit des Gesetzgebers der Einbezug der Stakeholder wichtig. Mit einem schlanken Gesetzgebungsverfahren wird einem weiteren Bedürfnis nach einer zeitnahen legislativen Sicherheit entsprochen. Aufgrund des starken Formalismus des Gesetzgebungsprozesses sind hier der Beschleunigung Grenzen gesetzt. Gleichwohl können Gesetzesvorlagen durch die Beratung in beiden Räten während einer Session mit sechs Monaten Verkürzung bereitstehen.

Ein Blick zu unseren Nachbarn zeigt, dass auch dort Instrumente für die Steigerung der Effizienz im Gesetzgebungsprozess angewendet werden. Der frühe Einbezug der regulierten Industrie und später der institutionalisierte Austausch mit der regulierten Branche gehören ebenso dazu wie die Einschätzung zum Innovationsgrad und Kosten/Nutzen des Gegenstandes der Regulierung und die Erstellung von Regulierungsfolgeabschätzungen. Auch wenn das EU-Gesetzgebungssystem mit EU-Kommission, EU-Parlament und -Rat keinen «fast-track» vorsieht, können bestimmte Verantwortlichkeiten im Rahmen von so genannten «Delegated acts» oder «Implementing acts» an die Kommission delegiert werden. Diese erlauben mehr Flexibilität und einen rascheren Prozess für den Fall, dass Anpassungen notwendig werden.

Gesetze und Verordnungen sollten demnach nicht zu präskriptiv sein, da Innovation schwer vorhersehbar ist und disruptiv sein kann.

IV. Instrumente einer optimalen Regulierung bei Swissmedic

Als strategische Instrumente pflegt Swissmedic die Antizipation («Horizon Scanning») sowie internationale Kooperationen mit Partnerbehörden. Weiter wirkt Swissmedic bei der Schaffung globaler Standards (ICH) mit.

Mit den regulierten Branchen erfolgt ein regelmässiger Austausch in Form von «Roundtables», an denen regulatorische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Umsetzung von neuen rechtlichen Anforderungen behandelt werden. Geplant ist neu auch, «Innovations-Roundtables» zu organisieren, die jeweils einem aktuellen Innovationsthema gewidmet sind, und zu dem neben den Industrieverbänden auch weitere Stakeholdergruppen wie zum Beispiel Forschungsinstitutionen eingeladen werden.

Swissmedic sieht sich hier insgesamt ähnlichen Herausforderungen ausgesetzt wie die Partnerbehörden im Ausland. So erstaunt es nicht, dass das Thema, wie mit Innovationen umzugehen ist, auch in die strategischen Prioritäten der «International Coalition of Medicines Regulatory Authorities» (ICMRA; http://www.icmra.info) Eingang gefunden hat.

V. Fazit

Diverse Aspekte (u.a. der Gesetzgebungsprozess, beteiligte Akteure aus Politik, Industrie, Regulator, usw., neue Herausforderungen, u.a. Innovationen) können mehr oder weniger Einfluss auf die Faktoren Zeit und Qualität der Regulierung haben. Dabei fällt auf, dass sich die Schere zwischen der Geschwindigkeit der in die politischen Prozesse eingebundenen Rechtsetzungsprozesse gegenüber derjenigen der technologischen Entwicklungen weiter geöffnet hat. Der Zeitfaktor kann vom Regulator wenig bis gar nicht beeinflusst werden. Zeitbedarf und Verzögerungen in dieser Phase sind weder im Sinne des im Vollzug tätigen Regulators noch der innovativ tätigen Pharma- und Medizintechnikunternehmen. Hier besteht Handlungsbedarf auf Seiten des Gesetzgebers.

Swissmedic kann als Regulator demgegenüber in seinem Aufgaben- und Kompetenzbereich Einfluss nehmen. Die oben beschriebenen strategischen Ansätze «Horizon Scanning» und proaktives «Stakeholder-Engagement» erlauben ein frühzeitiges Erkennen regulatorisch relevanter Entwicklungen, Aus der ZeitschriftLSR 2/2019 | S. 74–76 Es folgt Seite № 76Technologien und Innovationen. Der Austausch über innovative Produkte soll die Industrie früh auf regulatorische Anforderungen aufmerksam machen und Swissmedic die Gelegenheit bieten, die Entwicklung und Innovation durch rechtzeitige Bereitstellung regulatorischer Leitlinien zu unterstützen.

Als weitere wichtige Faktoren für eine effektive und effiziente Regulierung strebt Swissmedic einen noch höheren Digitalisierungsgrad, eine Beschleunigung der Prozesse und ein strategisches Personalmanagement an, welches die notwendigen Kompetenzen der Mitarbeitenden in der ganzen Breite des Technologiespektrums sicherstellt.

Die Ausführungen zeigen, dass Regulierung und Innovation vor dem Hintergrund eines proaktiven, kooperativen Ansatzes aus Sicht eines aktiven und innovativen Regulators keinen Widerspruch darstellen und der beidseitige koevolutive Ansatz am Ende des Tages die nachhaltigere Strategie ist, auch wenn der Prozess immer ein Tauziehen zwischen Schutz der Bevölkerung und Innovation bleiben wird.